Zum Buch: Tillmanns Schweigen

 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Hofstädter, Lina:
Tillmanns Schweigen: Roman/Lina Hofstädter.-
Innsbruck
Haymon, 1993
ISBN 3-85218-136-4

 

© Haymon-Verlag, Innsbruck 1993
Alle Rechte vorbehalten / Printed in Austria
Umschlaggestaltung: Helmut Benko
Satz: Edition Tau & Tau Type, Bad Sauerbrunn
Druck und Bindearbeit: Wiener Verlag, Himberg

 

€ 21,-
Ab 2014 auch als e-book erhältlich bei Haymon

 

http://www.haymonverlag.at/page.cfm?vpath=buecher/buch&titnr=136

 

 

 

Ein Ausschnitt aus "Tillmanns Schweigen" wurde mit dem
Harder Literaturpreis 1987 ausgezeichnet.

Leseprobe

                                 Kapitel 1

 

Utes Vorwürfe halten in seinem Kopf nach, sobald er das
leere Zimmer betrat. Ein Stapel Romane verstellt den
Weg. Einmal hatte T. Lust, die Bücher mit dem Fuß beisei-
tezustoßen, ein andermal, sie ins Regal einzuräumen. Er
unterließ beides, Er wartete ab.
    Auf dem Schreibtisch lahmte ihr Alpenveilchen an wei-
chen Stengel, und ringsum häuften sich Berge ungelese-
ner Fachliteratur, welche an seinen demnächst zu halten-
den Vortrag über »Veränderungen des mathematischen
Realitätsbegriffes in der Neuzeit« gemahnten. Auch der
Ordner mit der Habilitationsschrift lag unberührt. Er war
in letzter Zeit mit nichts weitergekommen. Seit er mit Ute
zusammenlebte, genaugenommen. Stets hatte er sich da-
mit vertröstet, daß diese Geschichte ja nicht ewig dauern
konnte. Er war nicht der Mann dafür, war ein Denker, die
Liebe Nebenfach. Doch Ute hatte sich immer tiefer
eingenistet in seiner Wohnung und in seinem Leben.
    Natürlich liebte er sie. Wenn sie ihn nicht gerade mit
ihren Fällen vom Sozialamt behelligte oder verlangte, daß
er ihre Bücher lese. Erzählungen! Romane! Wie, wenn er
ihr seine wissenschaftlichen Problemstellungen vorgelegt
hätte? T. hielt nicht viel von erfundener Wirklichkeit, und
die »allgemeinmenschlichen Probleme« welche Ute stän-
dig zittierte, erschienen ihm allzu unberechenbar. Einzig in
der Mathematik gab es halbwegs klare Lösungen. Das hat-
te wiederholt Anlaß zu Unstimmigkeiten zwischen ihnen
gegeben. »Wären alle wie du, würde sich am heillosen Zu-
stand der Welt nie etwas ändern!« warf sie ihm bei sol-
chen Gelegenheiten regelmäßig vor. T. dagegen fand, daß
es um die Welt bedeutend besser stünde, wenn die Men-
schen weniger handelten und mehr dächten. Sagte er das,
wurde Ute jedesmal wütend: »Mit dir kann man nicht re-
den!« so endeten die meisten Debatten.
    Auch diesmal wieder. T. konnte sich jedoch beim besten
Willen nicht an die Ursache der letzten Auseinanderset-
zung erinnern. Wenn erdie Angel nach Erinnerungen
auswarf, zog er nur zusammenhanglose Satzfetzen hervor.
Dabei hatte das Gespräch harmlos angefangen. Weit weg
von ihm. In einem Roman. Ute neigte dazu, Fiktion und
Wirklichkeit durcheinanderzubringen. Ließ sich denn
kaum richtigstellten. Warf ihm plötzlich, zwischen zwei
Bissen Apfelstrudel, mangelnde Anteilnahme vor. Er glei-
che aufs Haar irgendeiner Hauptfigur, einem Menschen-
feind!
    Hätte sie sich nicht immer wieder versucht, ihn solcherart
in falsche Kategorien hineinzuzerren, würde er sich mit
ihrer Leidenschaft für schöne Literatur und schlechte Ge-
sellschaft vielleicht abgefunden haben. Ja, wahrscheinlich
hatte er sich vor drei Jahren gerade in ihren Jung-
mädchen-Enthusiasmus verliebt, wenn nicht in ihre Au-
gen und ihre kleinen Brüste. So aber war er beständig vor
ihr auf der Hut.
    Diesmal hatte er sie schweigend gewährenlassen, als sie
ihm die neueste Geschichte auftischte. Trank Kaffee und
dachte über den Aufbau der kommenden Vorlesung nach.
Zu spät bemerkte er, daß sie das Thema gewechselt hatte.
Daß sie auf einmal über ihn sprach. Über seine Arbeit.
Unverständliches Mathematikgerede! Alles eine Flucht!
Egoismus! Er kam gar nicht mehr mit. Nur tote Zahlen in
seinem Kopf, sich sie so eine Nummer... T. entsann sich
nicht, was er geantwortet hatte. Wahrscheinlich war er ins
Schweigen oder in den Zynismus geflüchtet, wie immer,
wenn sie ihn in die Enge trieb. Es tat ihm ja leid. Es war
ein Mißverständnis. Bei ihr bewirkte jede Wort und jede
Geste stets das Gegenteil dessen, was er beabsichtigte. Es
war schon komisch: Da liebte man jemanden und verstand
ihn trotzdem nicht. Lebte verständnislos jahrelang mit ei-
nem Menschen zusammen, nur weil man irgendetwas an
ihm liebte. Mit dem Rest konnte man nicht das geringste
anfangen.
    Er ertappte sich dabei, daß er die Wohnungstür vergaß
abzusperren. Ging schon kaum mehr aus dem Haus.
Wenn sie zurückkäme, würde er vielleicht vorschlagen,
das Zusammenleben ein wenig zu lockern. Er hatte sich
bereits zurechtgelegt, wie man ihr das beibringen könnte.
Und er würde ihr natürlich großzügig bei der Anschaf-
fung einer Garconniere unter die Arme greifen. T. stellte
sich vor, wie er manchmal am Abend dann zu ihr gehen
würde. Aber sie ließ ihm keine Chance. Sie blieb einfach
weg.

 

Unschlüssig steht er vor dem Alpenveilchen; er hat Blu-
men nie gemocht. Sie sind so unselbständig. Wahrschein-
lich ist die Pflanze eingegangen. Ein ums andere Mal setzt
er sich an den Stapel Examensarbeiten. Dann vor das un-
fertige Vortragsmanuskript. Sein Kopf hämmerte. Er müß-
te sich endlich konzentrieren. Vernünftig arbeiten. In Ru-
he nachdenken über das eine wie über das andere. Aber da
ist irgendein fehlender Parameter, eine falsche Ausgangs-
oder Rahmenbedingung...
    Es schmerzt nun überdeutlich. Die Verlassenheit des
Zimmers dehnt sich mit dem Klumpen im Hals. Die übli-
che Angina, wie immer in Übergangszeit. Morgen wird
er keine Stimme mehr haben und die Vorlesung absagen
müssen. Niemand hätte mit einem nochmaligen Winter-
einbruch gerechnet, der Hausmeister hat die Heizung
längst abgedreht. T. fröstelt. Er versucht sich nie ablen-
ken zu lassen, genau zu denken. Warum ist sie weggegan-
gen? Hat sie mir das gesagt? Die Erinngerung spielt mit
ihm Verstecken. Wahrscheinlich ist sie zu den Eltern ge-
fahren. Sollte man dort anrufen? Es wäre ihm peinlich.
Was könnte er schon sagen? Es schien tatsächlich das be-
ste, hierzubleiben und abzuwarten. Sich für die nächsten
Tage krankzumelden.
    T. war immer überfordert gewesen, wenn er mehrere
Dinge gleichzeitig hätte tun oder denken sollen. Auch
jetzt konnte er sich vornehmen, was er wollte, alle Gedan-
ken liefen in Utes unergründlichem Verhalten zusammen.
Und dahinter blitzte ständig die noch dunklere Frage, ob
er ohne Ute oder mit Ute würde weiterleben können. Zu-
viele Unbekannte!
    Bei schwierigen Aufgaben an den Anfang zurückgehen,
erinnert er sich einer Mathematikerregel. Von vorne be-
ginnen, bei der einzig bekannten Größe. Es würde ihm
nichts übrigbleiben, als das Buch doch zu lesen. Immer
brachte Ute ihn dazu, Dinge zu tun, die er gar nicht wollte!
    T. sucht das Buch aus dem Stapel und legt sich ins Bett.
Seine Glieder fühlen sich schwer an, wie die einer Mario-
nette an lahmen Schnürren. Er ist krank. Tanzt nach ihrem
Willen. Und wenn sie ihn hängenließ? Er zieht die Decke
über sich. Die Schultern schmerzen, man weiß kaum, wie
man dich betten soll.

 

Jetzt ist alles durcheinandergeraten. Das Fieber. Ute. Das
Buch. Er muß geschlafen haben. Das schweißnasse Lein-
tuch klebt am Körper, daß er sich kaum rühren kann. Er
hat nicht rechtzeitig angerufen. Sich nicht krankgemeldet.
Hat den Zeitpunkt verschlafen, wo er noch jemanden hät-
te erreichen können. Nun weiß keiner, was los ist.
    Ich muß dieses Buch durchsehen, fällt ihm ein. Ute hat-
te gesagt, er müsse es unbedingt lesen. Mit kalten Fingern
blättert er durch die Seiten. Beginnt einmal von vorn,
dann weiter hinten. Nichts läßt sich daraus ableiten. Ohne
Zusammenhang. Es scheint in tausend verschiedene Ge-
schichten zu zerfallen, und man weiß nicht, worauf es
hinausläuft. Keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Leben.
Vielleicht ist es das falsche Buch, und das, was ihn angeht,
steht auf einem anderen Blatt?
    Er muß es systematisch angehen. Vorne beginnen. Der
abgegriffene Umschlag mit einem Bild von Escher hängt
zerfleddert herab. Überdies verkehrt umgelegt. Oder liest
T. das Buch verkehrt? Irgendetwas hat er übersehen. So
viele Sätze, die in Schleifen durch sein fiebriges Gehirn
ziehen, von denen keiner weiß, was sie in Wirklichkeit be-
deuten. Im Nachdenken rutscht er weiter in die Tiefe. In
eine ungesunde Stille. Hält bald nichts, bald alles für wahr.
Er hat Worten nie getraut. Zu unbestimmt, zu willkürlich
ist das, was sich daraus konstruieren läßt: eine Liebe oder
ein Abschied, nach Belieben. Und auf einmal stürzt man
aus der sicher vorausberechneten Existenz haltlos ins Lee-
re. Verfällt ins verwirrer?de Dasein eines Möglichkeits-
menschen. Immer tiefer in sein Krankheitsbild.


So weit ist es also mit ihm gekommen. Da liegt er auf dem
Rücken. Angestrengt unter der hängenden Stirnlocke, die
im Dämmerlicht nicht zwischen blond und grau zu unter-
scheiden ist, ein schmales, blasses Krankengesicht. Und
über diesem Gesicht, in den zitternden Händen, fast dro-
hend, das Buch. Es kann jeden Moment, wenn seine Kräf-
te nachlassen, auf ihn herabstürzen.
    Tillmann ist untergetaucht, und man kann nicht mehr
mit Sicherheit sagen, ob es in diesem oder in einem ande-
ren Roman geschehen ist. Hat sich in seiner Geschichte
verkrochen, in einem makellos weiß lackierten Metallbett.
Einem leeren Raum. Tillmann hat Ordnung gemacht.

Nach oben zur Buchauswahl